In einem SZ-Magazin aus dem Juli 2021 gab es ein Interview mit Heinz Strunk, das mich zu diesem Artikel inspiriert hat. Dort hieß es, Strunk führe eine Liste mit allen Büchern, die er seit 2006 gelesen habe, und er küre alle paar Monate seine aktuellen 50 Lieblingsromane und -tagebücher.
Das hat mich erinnert, dass auch die Bücher, die ich lese, ein Spiegel der Themen sind, die mich bewegen. Ebenso wie Filme, von denen mich manche geprägt haben. Eine Zeit lang war meine Strategie, Bücher und DVDs in immer größeren Regalen zu sammeln – und vor ein paar Jahren habe ich einiges davon wieder losgelassen. Aber eine Liste, welche Bücher ich beispielsweise vor zehn Jahren – in einer Phase grundlegenden Umbruchs – gelesen habe, hätte ich heute schon gerne. Die werde ich nicht bekommen, aber vielleicht freue ich mich ja in zehn Jahren über die Liste aus dem vergangenen Jahr. Und vielleicht inspiriert die Liste ja auch andere Menschen.
📖 Gundermann – Rockpoet und Baggerfahrer
Den Gundermann-Film habe ich gesehen, als er 2018 in die Kinos kam, war mir damals aber bewusst, dass in solchen filmischen Porträts gerne recht frei Dinge hinzugedichtet werden. Um so mehr habe ich mich gefreut, als mir dieses Buch mit Originalfotos und -interviews in die Hände fiel. Mein Bild von diesem beeindruckenden Menschen hat das Buch nicht im Geringsten geschmälert – im Gegenteil.
📖 Alte weisse Männer (Sophie Passmann)
Spontan gekauft beim Stöbern in der queerfeministischen Ecke einer schwäbischen Buchhandlung (ja, so was gibt’s). Diese Interviews, in denen alte weisse Männer unterschiedlichste Antworten auf die Frage finden, ob sie alte weisse Männer seien, sind höchst erfrischend.
📖 Ich will kein Kind (Sonja Siegert, Anja Uhling)
Der Ausgangspunkt meiner Auseinandersetzung mit der Frage, wie es um meinen Kinderwunsch steht, und ob es okay ist, dass der sehr wenig ausgeprägt ist. In Erinnerung geblieben sind mir vor allem die Vorworte, in denen die Autorinnen mit diversen gesellschaftlichen Mythen aufräumen, warum vermeintlich jede*r Kinder bekommen sollte.
🎬 In den Gängen
Ein herrlich schrulliger Film über eine zarte, unbeholfene Liebelei in einem ostdeutschen Großmarkt. Mitfiebern, mitschämen, mitlachen… alles dabei. Ach ja, auch dabei: Sandra Hüller 🧡
📖 how to – wie man’s hinkriegt (Randall Munroe)
Munroe war mal Robotik-Ingenieur bei der NASA, hat sich dann aber auf sehr nerdige Comics verlagert. Ein Glück für die Welt (und wohl wesentlich umweltfreundlicher).
📖 Du meine Pappel im roten Kopftuch (Tschingis Aitmatov)
Aitmatov habe ich zuletzt während meiner Schulzeit gelesen und meine mich zu erinnern, dass er sogar selbst mal in meiner Schule zu Besuch war, um aus seinem Leben zu erzählen. Ein willkommener Einblick in eine ganz andere Welt.
🎬 Take this waltz
„A brilliant portrayal of how messy and amazing love can be“. Schon im Frühjahr uneinholbar mein Film des Jahres.
📖 Selfish, shallow and self-absorbed (Meghan Daum (Hg.))
Das nächste Buch zur Kinderwunsch-Frage, das sich – der Titel verrät es – mit dem Vorurteil beschäftigt, selbstgewählt Kinderlose seien allesamt „selbstsüchtig, oberflächlich und primär mit sich selbst beschäftigt“.
📖 Die Radiotrinkerin (Max Goldt)
Ich muss zugeben, dass ich dann nicht mehr genau wusste, ob ich es schon mal gelesen habe. Beglückend war’s trotzdem (wieder).
📖 Der Pennäler zwischen den Stühlen (Yelmo Schütz)
Mein Vater hat auf seine alten Tage noch begonnen, Bücher zu schreiben (unter Pseudonym, was mir hier hilft, meine Anonymität zu wahren). Weiter unten mehr dazu…
📖 Mutterschaft (Sheila Heti)
Buch Nummer drei zur Kinderwunsch-Frage. Ich hatte dann auch noch „The chosen lives of childfree men“ entdeckt, als eines der wenigen Bücher über Nicht-Vaterschaft. Aber irgendwie reichte es dann auch nach Heti. Weiterer Erkenntnisgewinn nicht mehr zu erwarten.
📖 Futurzwei Zukunftsalmanach 2015/16 (Harald Welzer, Dana Giesecke, Luise Tremel (Hg.))
Nach dem 2013er-Almanach ein weiterer Wälzer (Entschuldigung, das war jetzt wirklich ein komplett ungewolltes Wortspiel. Ich meine, 542 Seiten!) mit inspirierenden Texten über Menschen, die „dann schon mal anfangen“ mit dem Weltretten.
🎬 The Kid
Ein Disneyfilm, der mich – so muss ich leider zugeben – gekriegt hat. Ein Mann im mittleren Alter begegnet erst einer Version seiner selbst aus der Vergangenheit (also als Kind) und später – gemeinsam mit diesem – einer dritten Version aus der Zukunft. Wirft die Frage auf, was ein erfülltes Leben ist. Dass Disney diese Frage primär mit „Heiraten und Kinder kriegen“ beantwortet ist ebenso nervig wie vorhersagbar, aber wenn man das mal beiseite lässt, findet sich doch immer noch genug Inspiration in der Darstellung dessen, was im Film *kein* erfülltes Leben ist – um sich dann von dort aus einen eigenen Alternativentwurf zu stricken.
📖 Ein perfekter Freund (Martin Suter)
Nicht dass ich Krimis läse. Aber Suter geht immer.
🎬 Wisdom of Trauma
Der wurde bei uns dieses Jahr rauf- und runtergeguckt. Hat auf jeden Fall meinen Blick auf „anstrengende“ Menschen verändert.
📖 Fleckenteufel (Heinz Strunk)
🎸 Helge Schneider – Let’s lach
Live am Dresdner Elbufer 🤩
🎬 Die Liebhaberin
Keine leichte Kost, und für manche ein recht verstörendes Ende. Gleichzeitig eine horizonterweiternde argentinisch-österreichisch-südkoreanische Co-Produktion mit humoristischen Seitenhieben auf die Achtsamkeits-Szene.
📖 Mädchenleben (Martin Walser)
Ein relativ schnell weg-snack-bares Buch über ein Mädchen, das schon zu Lebzeiten auf ihre eigene Heiligsprechung hinarbeitet.
🎬 The Danish Girl
Ein Film, basierend auf der Lebensgeschichte von Lili Elbe, eine der ersten Transsexuellen, die sich in Deutschland in den 1930ern einer geschlechtsangleichenden Operation unterzog.
🎬 Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?
Ein herrlich alberner Film über die Liebe und das Altern. Mit spontaner homoerotischer Liebe, einem äußerst altklugen Kind und einem pummeligen „Gott“ (hinten im Bild), der tragischerweise von niemandem für voll genommen wird.
📖 Bilder deiner großen Liebe (Wolfgang Herrndorf)
Herrndorfs letzter, unvollendeter Roman. Stellenweise rätselhaft, weil eben unvollendet und fragmentarisch, aber nichtsdestotrotz sehr anrührend – vor allem wegen des Epilogs, der die Entstehungsgeschichte in seinen letzten Lebensmonaten – in Kooperation mit seinen engsten Freunden – nachzeichnet.
📖 Sag alles ab (Haus Bartleby)
Ein Plädoyer für die Weltrevolution mit Stil – Das Buch über Karriereverweigerung und das Ende der neoliberalen Epoche.
Mein liebster Absatz:
🎬 Und morgen die ganze Welt
Ein Film über eine junge Frau, die sich in der linken Szene radikalisiert und irgendwann auch Gewalt und Körperverletzung als legitimes Mittel des Widerstands gegen Rechtsextremismus sieht. Schwer verdaulich – ich war in den ersten Minuten nahe dran, den Kinosaal zu verlassen. Gleichzeitig ein wertvoller Denkanstoß, wie weit ich bereit bin, für meine Überzeugungen zu gehen.
📖 102 grüne Karten zur Rettung der Welt (Katapult)
Die aus dem Katapult-Magazin bekannten Karten und Infografiken – so unterhaltsam wie zum Nachdenken anregend.
📖 Liebessabotage (Amélie Nothomb)
Eine Horde unbeaufsichtigter Kinder verschiedenster Nationen im Diplomatenghetto in Peking. Schon bald haben die Diplomateneltern keine Zeit mehr, sich um den internationalen Frieden zu bemühen, denn ein Weltkrieg wütet unter ihren Kindern.
📖 Die dunkle Seite des Mondes (Martin Suter)
Ein Krimi über einen Wirtschaftsjuristen, der von einem Pilztrip nicht mehr runterkommt. Lustigerweise habe ich das Buch während meines Besuchs bei Wir bauen Zukunft gelesen, wo ich am selben Tag zum ersten Mal (in Begleitung!) Pilze sammeln war. Das hat dann (beim Essen wie beim Lesen) schon ein paar interessante Bilder hervorgerufen, was mir da wohl gleich bevorsteht.
📖 Momo (Michael Ende)
Ein Langzeit-Vorleseprojekt. Beim ersten Auftauchen der grauen Herren fühle ich mich ertappt: diese Logik des Zeitsparens habe ich auch ganz schön verinnerlicht: man spart permanent Zeit, aber übrig bleibt trotzdem nix. Waren die auch schon bei mir?
🎬 Tatort: Das ist unser Haus
Zählt das als Film? Jedenfalls: grandios. In der Baugrube eines schwäbischen Gemeinschafts-Wohnprojekts taucht eine Leiche auf. Und die Bewohner*innen haben bald nichts besseres zu tun, als sich reihum gegenseitig zu beschuldigen, wer daran schuld ist. „Biodeutsche Weißbrote“, die sich gegenseitig vorwerfen, dass „das gerade aber nicht gewaltfrei war“. Der Plot steckt voll Insidersprech und überzeichnet die Realität nur minimal: da werden negative Energien weggeräuchert, die Aura des Hauses gespürt, man brüllt einander an und fällt sich Sekunden später um den Hals. Es gibt den Gemeinschafts-Nerd, der immer so ein bisschen über all diesem Eso-Kram steht, aber zwischendurch mit feuchten Augen bekennt: „Ehrlich, das bedeutet mir ganz schön was mit euch!“
Zum Schluss lernt man: in Gemeinschaft zu leben ist insgesamt so schön oder doof, wie es auch alleinwohnend sein kann, aber „wenn man unerwartet stirbt, merkt’s wenigstens jemand“. Das ist die Essenz – großartig. Ich wüsste zu gerne, wo der*die Drehbuchautorin sich zu Recherchezwecken herumgetrieben hat. Etwa auch bei uns?
📖 Drüberleben – Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein (Kathrin Weßling)
Die Autorin hätte ich um Haaresbreite in Chemnitz kennengelernt, aber das scheiterte – man erinnert sich – „aus produktionstechnischen Gründen“. Dann nähere ich mich halt so an. Liest sich gut, wenn man gerade genügend Distanz zur Thematik hat. Ansonsten vielleicht eher bleibenlassen.
🎬 Full Metal Village
Ein herrlicher „Heimatfilm“ über das norddeutsche Dorf Wacken, das einmal jährlich Austragungsort eines enorm großen Metal-Festivals ist. Die Regisseurin nimmt sich erfreulich viel Zeit, die Dorfbewohner zu porträtieren – das Festival ist eher eine Randnotiz. Göttlich die Szene, wie einer der alten Bauern es als „Geheimnis einer guten Ehe“ bezeichnet, diverse Neben-Gespielinnen zu haben (natürlich nur als Mann!) und man ihm im nächsten Moment die Unsicherheit ansieht, ob es für ebendiese Ehe nicht sehr dumm war, das vor laufender Kamera zu äußern.
📖 The Big Five for Life (John Strelecky)
Na ja, Strelecky… irgendwie platt, und irgendwie auch sehr inspirierend, wenn man sich beruflich gerade neu erfindet. Hat mir jedenfalls in der Nacht nach dem zu-Ende-Lesen einen farbenfrohen Traum beschert, wie mein (Berufs)leben aussehen könnte, wenn ich ganz meinem Feuer folgen würde.
🎬 Wendezeit
Warum habe ich den gleich noch mal geschaut? Ach so, klar: Petra Schmidt-Schaller in der Hauptrolle!
📖 Kleine freie Männer (Terry Pratchett)
Pratchett habe ich als Jugendlicher gelesen und wollte bloß mal schauen, ob das auch grob 27 Jahre später noch fetzt. (Ja, und… reicht dann auch wieder.)
🎬 Hemel
Hemel eckt an. Hemel – das ist niederländisch für „Himmel“. Für ihr Umfeld ist es aber manches Mal die Hölle, wenn sie provoziert, stichelt, Moralvorstellungen hinterfragt. Der Film zeichnet das Bild einer ambivalenten, aufgewühlten Frau. Eine unerschrockene Kriegerin mit verletzlicher Seele – voller Explosivität und zugleich von großer Zartheit.
🎬 Weitermachen, Sanssouci
Eine herrliche Persiflage auf den Uni-Betrieb, wo man vor lauter Evaluieren, Pitchen und Projektmittel-Anträge-Ausfüllen nicht mehr zum Forschen kommt. Der Film steigert sich von Minute zu Minute mehr ins Absurde, wobei die leise Befürchtung zurückbleibt, dass er sich dabei nur minimal von der Realität entfernt.
🎬 Der Name der Leute
Die engagierte Bahia hat ihre eigene Art, die Welt zu verbessern: Getreu dem Hippie-Motto „Make love, not war“ schläft sie mit reaktionären und konservativen Männern, um sie ideologisch „umzudrehen“. Als sich Bahia in den peniblen Beamten Arthur verliebt, gestaltet sich die Beziehung entsprechend stürmisch.
🎬 Monte Verità – Der Rausch der Freiheit
Ein wahnsinnig schön aufgenommener Film über den Monte Verità – einen Berg in der Schweiz, auf dem sich vor hundert Jahren Aussteiger, Künstler und Sinnsuchende trafen. Seinerzeit ein so inspirierender wie umstrittener Ort. Ich hatte befürchtet, dass es ein ziemlich verkitschtes Historiendrama sei, wurde aber positiv überrascht.
🎬 Mittsommernachtstango
Der Tango wurde in Finnland erfunden – davon ist Aki Kaurismäki fest überzeugt. Um dieser Behauptung nachzugehen, reisen drei Vollblutmusiker aus Buenos Aires (das sie ihrerseits für den Ursprungsort des Tango halten) nach Finnland. Die Begegnungen zwischen den so unterschiedlichen Musikern und Kulturen sind manches mal berührend, fast immer aber umwerfend komisch.
🎬 Von Bienen und Blumen
Eine höchst amüsante Doku über ein Brandenburger Gemeinschaftsprojekt, der es mit lakonischem Kommentar aus dem Off immer wieder gelingt, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit äußerst treffend aufzuspießen.
🎬 Kein richtig falsches Leben
Und gleich noch eine Gemeinschafts-Doku: gedreht in Sieben Linden, über Sieben Linden, von einem Sieben-Lindener. Sehr nah dran also. Und höchst sympathisch.
📖 Hilfe, die Herdmanns kommen
Ein weiteres Vorleseprojekt. Die Herdmanns – sechs unerzogene Geschwister, die ein Krippenspiel aufmischen – sind in meiner Erinnerung untrennbar mit meiner eigenen Kindheit verbunden. Vermutlich habe ich es selbst vorgelesen bekommen. Aber manches kapiert man ja als Erwachsener noch mal auf einer ganz anderen Ebene. Etwa wie diese Blagen entgegen der hübschen Geschichte vom „lieb Jesulein bei Ochs und Esel“ instantan durchschauen, dass das eigentlich ziemlich beschissen und unglamourös ist, so als unverheiratetes Paar das frischgeborene Kind in eine Heuraufe legen zu müssen. Und so spielen sie ihre Rollen dann halt auch – und erschaffen damit vermutlich das ehrlichste Krippenspiel ever.
📖 Die Rosenbaum-Doktrin (Wolfgang Herrndorf)
Herrndorf lesen macht mich immer etwas traurig. Weil nichts mehr nachkommen wird. Also spare ich mir die letzten ungelesenen Bücher sorgfältig auf und habe dieses winzige Bändchen Buchstabe für Buchstabe ausgekostet.
📖 Beinahe ein Lehrer (Yelmo Schütz)
Bereits das dritte semi-autobiographische Buch meines Vaters. Nach Kindheit und Jugend spielt es während seiner Studentenzeit. Während des Lesens habe ich immer wieder überlegt, wie viel Wahrheit in dieser oder jener Episode steckt. Und habe es dann doch (einstweilen) bleiben lassen, nachzufragen. Stattdessen habe ich mich mit dem „Geschmack“ dieser Zeit begnügt, der detailreich rüberkommt – egal ob sich das alles exakt so zugetragen hat.
Und im nächsten Jahr?
Um den Jahreswechsel noch mit neuen, gebrauchten Büchern eingedeckt:
Mich mit Zeh, Passig und Herrndorf zu umgeben, macht mich gerade sehr glücklich. Miranda July würde das Ganze vollkommen machen, aber von der habe ich leider wirklich schon alles halbwegs Greifbare aufgekauft. Aber gut, auch die obigen Bücher werden mich eine Weile beschäftigen, anrühren, inspirieren, amüsieren. Ich freue mich drauf.