„Cool, du machst ein paar Tage Urlaub! Wo geht’s denn hin?“
Ich so, freudestahlend: „Nach Chemnitz!“
Das entgleiste Gesicht meines Gegenübers: unbezahlbar.
Tja, warum Urlaub in Chemnitz? Im Grunde genau deswegen. Oben genanntes Gegenüber assoziiert mit „Urlaub“ eher „nach La Gomera fliegen“. Und ich finde, das muss nicht sein. (Gut, ich war nie auf La Gomera, vielleicht entgeht mir da wahnsinnig was. Ich werde es wohl nie erfahren.) Aber weil ich es nicht besser weiß, behaupte ich nachdrücklich: Man muss nicht weit wegfahren zum Urlauben. Und es braucht keine klangvollen Namen. 2018 etwa, ein Kurzurlaub in Schmerzke, in der Nähe von Kirchmöser… Gelandet sind wir da im Grunde bloß wegen unserer gemeinsamen Vorliebe für alberne Ortsnamen, und was soll ich sagen: es war herrlich.
Diesmal also Chemnitz, alleine. Chemnitz hat keinen so lustigen Namen, es hat in der Außenwahrnehmung überhaupt wenig Lustiges. Vom Radiohören assoziiere ich mit Chemnitz vor allem Nazi-Problematik, und dann erst mal lange gar nix. Als mir dämmerte, dass das der Stadt vielleicht nicht ganz gerecht wird, entstand die Entscheidung: Ich will da mal hin, mir ein eigenes Bild machen.
Zudem habe ich ziemlich wenig Ahnung von Geographie, mein Spezial-Nichtwissensgebiet sind die neuen Bundesländer. Dadurch, dass ich meine Wahlheimat bereise, bekomme ich ein Bild. Wo die Städte liegen, wie sie sich anfühlen.
Die schnucklige Einzimmerwohnung entdecke ich eine Woche vorher auf AirBnB. Im Profil der Vermieter steht, dass sie ein Yogastudio leiten, da dachte ich: das kann nicht ganz verkehrt sein. Ich will ja schließlich die Nicht-Nazi-Seite von Chemnitz kennenlernen. Vollends überzeugt bin ich dann, als ich lese, dass man ab vier Übernachtungen eine Yoga-Stunde geschenkt bekommt. Deal!
Was auch noch zum Konzept meiner Städte-Erkundungen gehört: das Alleinsein. Ist ja ein rares Gut in meinem Alltag. Insofern ist das hier ein großer Luxus: vier Tage lang niemandem begegnen (außer ich lege es wirklich drauf an), nicht an feste Essenszeiten gebunden sein, keine Termine haben, rumtrödeln. Im Schlafanzug frühstücken, anschließend das Geschirr stehen lassen und wieder ins Bett gehen. Weil ich’s kann.
Donnerstag
Es stellt sich heraus, dass meine Vermieterin nicht nur Yoga unterrichtet, sondern auch einen Laden hat. Dort verabreden wir uns zur Schlüsselübergabe, ich bekomme Tee serviert, bewundere Klangschalen, Räucherstäbchen und „Decken aus Indien, Nepal und Bulgarien“. Hach, diese exotischen Länder, schön. Wir kommen gleich angeregt ins Gespräch. Einen Stapel Flyer unseres Seminarzentrums drücke ich ihr bei der Gelegenheit auch in die Hand, klar. Dann schnell noch gestehen, dass ich keine fancy Yogakleidung besitze und überhaupt wenig Erfahrung habe, was sie aber gleich vom Tisch wischt. Das sei nicht so ein Studio, wo man nur in weiß eingelassen werde – willkommen sei jede*r, egal wie viel Erfahrung, wie fit und in welchen Klamotten.
Was mir gleich, schon bei der Einfahrt in die Stadt, gefällt, ist der bunt bemalte und nachts noch viel bunter beleuchtete Schornstein des Chemnitzer Heizkraftwerks. Gut dreihundert Meter hoch – der zweithöchste Schornstein Deutschlands. Da kann man schon nicht verlorengehen beim Erkunden der Stadt, denke ich mir – aber ehrlich gesagt: so groß ist Chemnitz gar nicht, dass man da ernsthaft verlorengehen könnte. (Und, ja – der Schornstein gehört zu einem Braunkohlekraftwerk. Darf ich ihn trotzdem ein wenig schick finden?)
Wenn ich eine Stadt erkunde, gehören Foodsharing und toogoodtogo auf jeden Fall dazu. Beides sind Initiativen gegen Lebensmittelverschwendung – Erstere geldfrei, bei Letzterer zahlt man ein wenig für die Lebensmittel. Am Abend meiner Ankunft habe ich noch Glück bei einem Bäcker. Das toogoodtogo-Paket zum Ladenschluss kostet pauschal vier Euro – dafür bekomme ich sagenhafte dreißig Brötchen überreicht (bei den Bäckern, die mit toogoodtogo kooperieren, fällt das Preis-Leistungs-Verhältnis nach meiner Efahrung oft besonders üppig aus. Da sieht man mal wieder, was andernfalls im Müll landet…) Dreißig Brötchen also. Wenn ich bis zu meiner Abreise nichts anderes essen würde, könnte das in etwa hinkommen. Wäre aber etwas einseitig. Zum Glück wohnen meine Vermieter gleich nebenan, und ich stelle ihnen spontan eine große Tüte Brötchen vor die Tür.
Freitag
Ausschlafen, möglichst viele Brötchen frühstücken, dazu leicht belustigt Lokalradio hören, weil – Achtung, Selbstbeschreibung:
„R.SA ist ein modernes, unverwechselbares Radioprogramm für erwachsene Hörer in Sachsen, deren Lieblingsmusik der Sound der 80er Jahre ist, die mitten im Familien- und Berufsleben stehen und mit Radiohören den nötigen Schwung suchen, sich selbst zu verwirklichen, aber auch optimistisch und lebensbejahend die Herausforderungen des Alltags zu meistern.“
Die „erwachsenen Hörer“ werden weiter unten genauer spezifiziert: „40-59jährige“. Ui, da gehöre ich demnächst dazu. Schwung durch Radiohören, ich komme!
Anschließend ein bissel im Internet herumtreiben: wo finde ich sie denn, die alternativen Fleckchen der Stadt? Suche nach „Chemnitz alternativ“ führt vor allem zur „Alternative für Chemnitz“. Verdammt, auch dieser Begriff schon gekapert. Ich habe die anderen Alternativen gesucht! Werde dann doch noch fündig: Kabarett, Jugendzentrum, Literaturlesung, Kuschelparty, veganes Café mit Unverpackt-Laden, Freifunk, Arno-Stern-Malraum, Singer-Songwriter-Konzert, Bieryoga…
Hat gerade jemand Bieryoga gesagt? Jep. Zitat Veranstalter:
BEERYOGA – EINE KOMBINATION AUS YOGA & BIERTRINKEN
Sowohl mit Yoga als auch mit Bier lassen Menschen seit Jahrhunderten die Seele baumeln und entspannen Körper und Geist. (…) Die Ausgelassenheit, die das Biertrinken mit sich bringt und das Körperbewusstsein von Yoga lassen sich zu einer energetisierenden Erfahrung verbinden – gebt euch diesem Gefühl hin – im Bier und Jetzt. (…) Für Anfänger*innen (im Yoga & Biertrinken) geeignet.Tagestipp: Danach kann man wunderbar entspannt mit dem Fahrrad in’s AJZ zur Vokü radeln!
Das ist am kommenden Dienstag. Verdammt, ich reise einen Tag zu früh ab!
Nachmittags dann zur geschenkten Yogastunde (ohne Bier). Tatsächlich angenehm unprätentiös, und in Windeseile auch schon wieder vorbei. Unser Seminarprogramm liegt bereits aus – yes! Überlege kurz, anschließend original sächsisches Kabarett zu besuchen – entscheide mich dann aber doch dagegen.
Als ich zurückkomme, habe wiederum ich was auf der Türschwelle liegen: meine Vermieter haben sich mit Literatur revanchiert. Zweimal Stadtgeschichte Chemnitz, dazu das 815 Seiten starke „DDR-Handbuch“. Jou, Programm für die nächsten Tage steht, würde ich sagen.
Abends lese ich noch im Stadtmagazin Stadtstreicher und lerne, dass Chemnitz sich als Kulturhauptstadt 2025 bewirbt und in diesem Prozess gerade den Konkurrenten Dresden rausgekegelt hat. Die Organisatoren stehen offensichtlich vor einer doppelten Herkulesaufgabe: nicht nur, dass sie die Jury überzeugen müssen, sie müssen zuallererst das chronisch angeknackste Selbstbewusstsein der Chemnitzer päppeln. Es wäre ein tolles Signal für die Stadt, wenn sie den Zuschlag bekäme – ich drücke alle Daumen!
Samstag
Draußen ist es trüb und stürmisch, aber ich mache mich trotzdem auf, um etwas von der Stadt zu sehen. Im großen Bogen radle ich einmal um den Stadtkern herum: Hilbersdorf, Sonnenberg, Lutherviertel, Kapellenberg, Kassberg, Schlosschemnitz und wieder zurück. Ein paar Impressionen:
Am Abend Qual der Wahl: Kabarett? (Heute auf dem Programm: Sglatschtglei). Ein Film über die Problematik westlicher Ernährungsgewohnheiten? Ein Singer-Songwriter-Konzert im Kulturcafé? Oder doch die Autorinnenlesung mit dem neuen Roman von Kathrin Weßling?
Ich entscheide mich für letzteres, treffe allerdings nur einen einsamen Mann an. Der Mann sitzt einzig und allein dort, um mir mitzuteilen, dass die Lesung ausfällt. Oh, ist die Autorin erkrankt? „Nee… man sagte mir: produktionstechnische Gründe“. Ach so, ouh, so genau wollte ich’s gar nicht wissen.
Also auf zum Konzert im Kulturcafé KaffeeSatz – meiner zweiten Option für den Abend. (Sorry Leander, voll schöne zweite Option!)
Ich frage Leander, ob es ihm was ausmacht, wenn ich während des Konzerts ein paar Fotos mache. „Nee, mach das – so für Facebook? Instagram?“ Ich fühle mich sehr alt, als ich sage: „Nee, für mein Blog.“ Schiebe gleich hinterher, dass das kein großes Ding sei, wahrscheinlich lesen das dann doch wieder bloß zehn Leute. Er lacht, zeigt in den Raum – da sitzen exakt neun Gäste. Ich werde ihn hiermit also so was von groß rausbringen.
Weil wir so wenige sind, schaltet er kurzerhand Lautsprecher und Mikro ab und spielt einfach so. Das Konzert macht großen Spaß, und auch das KaffeeSatz gefällt mir:
Schönster Klospruch:
„Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“
– Sebastian Vettel
Da war wohl ein Känguru-Fan am Werk. Aber am coolsten finde ich glaub‘, dass auf dem Flyerregal das Deutsche Grundgesetz ausliegt.
In der Konzertpause husche ich kurz zum libanesischen Imbiss, Essen retten. Höchst vorbildlich müllsparend habe ich meine eigenen Tupperdosen mitgebracht. Der Mensch hinterm Tresen will sie aber erst nicht befüllen: „Bruder, wenn ich das heiße Essen in das Plastik mach‘, das macht dich voll krank!“. Ich versichere ihm, dass die Box hitzebeständig ist und ich nur äußerst selten aus Plastik esse. Wie man’s macht… Andererseits auch echt sweet, wie sich die Chemnitzer Bürger um mich sorgen.
Sonntag
Weiterhin stürmisch, regnerisch, grau. Scheint eine Chemnitzer Kernkompetenz zu sein. Aber oh, Verzeihung, ich wollte ja auf die lichten Seiten schauen.
Ich bleibe den ganzen Tag in meiner muggelichen Bude und erkunde Chemnitz vom Sofa aus. Höre ein Radiofeature, in dem diskutiert wird, ob Chemnitz das neue Berlin, oder doch das neue Paris wird. Lese im Böll-Themenheft „Tickt der Osten wirklich anders?„. Stoße auf das fantastisch freche Chemnitz-Blog re:marx, von dem ich gefühlt eine Stunde nicht mehr loskomme. Entdecke weitere Eckchen und Cafés, die noch besucht werden wollen. Die Chemnitz-to-do-Liste wird eher länger als kürzer – das spricht ganz klar für die Stadt.
Um diese vielen interessanten Orte leicht zu finden, nutze ich übrigens BatchGeo. So entsteht Schritt für Schritt mein ganz persönlicher Stadtplan, der inzwischen ganz schön mit Pin-Nadeln übersät ist:
Montag
Endlich sind die Brötchen alle. Auf in die Stadt, Frühstücken in einem netten Café! Leider habe ich kein Glück. Das Dreamer’s Café: öffnet wieder am Mittwoch. Peacefood: öffnet am Mittwoch. Der Bioladen um die Ecke: ab Mittwoch wieder. Also wenn „grau und trüb“ die Kernkompetenz von Chemnitz ist – Wochenbeginn ist es nicht.
Ich treibe mich trotzdem noch ein bisschen im Brühl rum, das ist Chemnitz‘ designierter künftiger Hipster-Stadtteil:
Entdecke ein Plakat in einem Fenster, das für den heutigen Abend ein Konzert ankündigt. Darauf entspinnt sich ein innerer Monolog, den wohl nur ganz nachvollziehen kann, wer meine Herkunft etwas kennt:
Bevor ich da hingehe, gönne ich mir noch ein Abendessen im syrischen Restaurant Malula. Geilo! Das Konzert ist dann nett, die Location bekomme ich nicht ganz klar. Schönster Klospruch hier:
Schokolade ist Gottes Entschuldigung für Brokkoli.
(Das ist diesmal kein Känguru-Witz.) Das „Inspire“ ist laut Selbstbeschreibung „die Kirche für Menschen, die keine Kirchen mögen“. So ganz erschließt sich mir das nicht. Aber ich sach mal so: es gibt die wunderlichsten Dinge auf Gottes weitem Erdenrund. Besser als ein AfD-Parteibüro ist’s allemal.
Damit geht mein Chemnitz-Urlaub zu Ende. Was soll ich sagen – Chemnitz ist ’ne dufte Stadt. Wenn es nicht noch so viele andere Städte zu entdecken gäbe, würde ich glatt sagen: ich komme wieder.
Oh L`.,
was habe ich mich amüsiert beim Lesen! Du schreibst so toll – wusste gar nicht, dass du neben deinen Elektro- / Internetfähigkeiten auch noch so gute Reportagen schreiben kannst. Freue mich, wenn du wieder da bist und wünsche vielen von uns, dass sie ihre Kurzurlaube so gut nutzen wie du.
Herzlichen Gruß!
Georg
Ich bin jetzt, seit dem Lesen Deiner Chemnitzgeschichte, ein noch größerer Fan von Dir. Du ziehst es wirklich durch, mit offenen Augen und offenem Herzen durch die Welt zu gehen, ohne vorher schon zu wissen, wie es da wohl sein wird, im tiefsten Osten. Mit Halle ist mir das neulich auch passiert, aber jetzt habe ich sogar eine Vorstellung davon, dass ich eines Tages neugierig und überrascht Chemnitz entdecken könnte. Danke! Auch für Deinen Humor, der mir manchmal angesichts der politischen Realitäten abhanden kommt 😉 Deshalb gleich noch ein Känguru-Zitat zum Weiterschmunzeln:
„Ja, wir könnten jetzt was gegen den Klimawandel tun, aber wenn wir dann in 50 Jahren feststellen würden, dass sich alle Wissenschaftler doch vertan haben und es gar keine Klimaerwärmung gibt, dann hätten wir völlig ohne Grund dafür gesorgt, dass man selbst in den Städten die Luft wieder atmen kann, dass die Flüsse nicht mehr giftig sind, dass Autos weder Krach machen noch stinken und dass wir nicht mehr abhängig sind von Diktatoren und deren Ölvorkommen. Da würden wir uns schön ärgern.“
Gefunden auf: https://www.myzitate.de/die-kanguru-chroniken/
Ja mei, kannst du fein schreiben <3 Gern mehr davon!!! 😉
Die Stadt scheint interessanter geworden zu sein, seitdem ich dort nicht mehr wohne. Hoffentlich gibt es da keinen kausalen Zusammenhang^^
Bin gespannt auf weitere Städtereisen und Blogartikel von dir 😉
Welch eine Freude.
Ich gehöre auch zur Chemnitz nein Danke Fraktion – ohne wikliche Kenntnisse der Stadt noch kenne ich eine Person. Reaktion auf zeitung,Radio …
Daher ein großes Danke für deine Neugier und deinem Intresse ihr zu Folgen und mich dabei ins Boot zu holen. Welch eine Freude beim Lesen im Ganzen und deiner eigenen offenen Formulierung.
Wann hast du wieder Urlaub?
Bettina
Mehr davon! <3 <3 <3
Also mehr Texte, aber auch mehr Urlaub 😉
Du schreibst einfach großartig!
Sehr schön, amüsant und lustmachend zu lesen –
und
echte Friedensarbeit
Ein schönes Chemnitz-Porträt im mdr dieser Tage: https://www.mdr.de/kultur/videos-und-audios/audio-radio/audio-werkstatt-gerechtigkeit-fuer-chemnitz-100.html
Moin,
hier ist Stefan vom Kaffeesatz. ich bin gerade zufällig über den Blogeintrag gestolpert und freue mich, dass unser kleiner Kulturverein und die Stadt so gut bei dir angekommen sind – Danke. FYI: Die Klosprüche sind tatsächlich Känguru-inspiriert, allerdings völlig zulässige Neuschöpfungen und das GG liegt sogar mehrsprachig in der Bücherkiste. Bis zum nächsten Besuch – wir freuen uns schon drauf 🙂