Blaue Blume: Das Festival zur Wiederverzauberung der Welt

Eigentlich hatte ich mir für den Juni ein „Nicht-Seminar“ ausgeguckt. Die Ausschreibung in der oya hatte mich elektrisiert: Eine Woche in der Tradition des Monte Verità, eine Woche gemeinsamen Nichtwissens. Dort sollte „grüner gelebt, wilder gedacht und freier geliebt“ werden. Leider fiel die Veranstaltung aus und auf der Suche nach Alternativen stieß ich auf die Blaue Blume – das „Festival zur Wiederverzauberung der Welt„. Beim Blick aufs Festivalprogramm war ich erst mal sehr skeptisch: Blumenkranzbindeworkshop, Wolkenguckworkshop, schamanische Naturverbindungsrituale… auf den ersten Blick nicht so meine Welt. Und irgendwas zog mich trotzdem hin – was genau, wusste ich noch nicht.

Was mich zog war die Hoffnung, mich für ein paar Tage in einem Umfeld zu bewegen, wo man mich nicht kannte. Wo ich alle Rollen ablegen konnte, auf die ich häufig reduziert werde und über die ich mich auch oft genug definiere. Tatsächlich war niemand auf dem Festival, den ich näher kannte – das Experiment konnte beginnen.

Die Idee hinter der Blauen Blume ist weit mehr als ein Festival: die Veranstalter greifen ein zentrales Symbol der Romantik (ca. Ende 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts) auf. Die Romantik war damals eine Reaktion auf die Aufklärung, die als zu verstandeszentriert, zu wenig aus dem Herz heraus kritisiert wurde. Entsprechend ist das Festival als „sinnlichkeits-positiv“ ausgeschrieben und ist nur eine von vielen Veranstaltungen im Jahreslauf. Die Veranstalter verstehen sich als Bewegung, die eine Kultur wiederbeleben wollen und den Aufbau einer Gemeinschaft anstreben.

Eines der unangefochtenen Highlights auf dem Festival: das Essen vom Küchenkollektiv freiRaum der Einheit. Diese Menschen brachten von früh morgens bis spät in die Nacht einen unglaublichen Einsatz, um dreihundert Menschen mit Essen zu versorgen. Auf einem Anhänger hatten sie einen Lehmofen mitgebracht, in dem täglich Brot fürs Frühstück gebacken wurde. Hafer-, Mandel- und Haselnussmilch wurden frisch vor Ort produziert, ebenso wie Chai aus selbst zusammengestellten Gewürzen. Die Mahlzeiten waren extrem vielseitig und immer wieder überraschend: Ananas-Mangold, Pfirsich-Poree, Cashew-Zucchini… Ungewöhnlich war, dass man am Buffet bedient wurde: jedem Gast stand hinter dem Tresen ein Helfer gegenüber, der für ihn den Teller füllte. Eine schöne Geste, einen gefüllten Teller überreicht zu bekommen, anstatt sich selbst zu bedienen. Ungewöhnlich zu guter Letzt auch, dass im Festivalpreis zwar die Lebensmittel, nicht jedoch der Lohn für die Küchencrew enthalten war. Der freiRaum der Einheit setzt auf Wertschätzungsökonomie: jeder darf seine Wertschätzung ausdrücken, wie er möchte – sei es in Form von Geld, einer Massage oder Mithilfe in der Küche. Das Vertrauen, dass diese Rechnung aufgehen wird, war deutlich spürbar und schuf Verbindung, wo man andernfalls vielleicht nur die bezahlte Dienstleistung in Anspruch genommen hätte. Stattdessen konnte man jederzeit für ein paar Minuten oder Stunden auf die andere Seite des Tresens wechseln, mithelfen und so Teil des Kollektivs werden.

Der Workshopzeitplan war festivaltypisch überbordend: häufig drei oder mehr parallel laufende Workshops, zwischen denen die Wahl alles andere als leicht fiel. Yoga, Possibility Management, Wutkraft? Philosophische Runde zur Romantik, luzides Träumen oder doch eher Malen mit Menstruationsblut? Schön auch das Angebot von „Männer“- und „Frauen“gruppen, die allen Menschen offenstanden, die sich im Moment der einen oder anderen Gruppe zugehörig fühlten. Großartig auch ein Safer-Sex-Workshop von sex-aware.org, bei dem es eine Unmenge Tipps und Handreichungen gab, wie ich Begegnungen mit unbekannten und/oder wechselnden Partnern sicherer gestalten kann. Dass diese Informationen erst mal abtörnen und einem ein Safer-Sex-Gespräch auch die Schamesröte ins Gesicht treiben kann, ist den Macher*innen bewusst: wir leben eben in einer Gesellschaft, wo diese Themen stark tabuisiert sind und es braucht viel Übung, diese Konditionierung abzulegen.

In diesem Zusammenhang ging es auch viel um Konsent und Eigenverantwortung: formuliere klar deinen Wunsch, frage nach, ob dein Gegenüber einverstanden ist und bedanke dich für die Klarheit, wenn du ein Nein bekommst. Auch ein „Vielleicht“, ein „Ich weiß nicht“ und ein „Ja, …“ sind erst mal ein Nein. Das waren Leitlinien, die sich für mich durchs ganze Festival zogen – schließlich sind sie nicht nur für sinnliche Räume gültig. Es gab auch abseits solcher Räume genügend Gelegenheit, in Selbstverantwortung zu gehen.

Das Festival war angenehm konsum-arm: mit der Teilnahmegebühr war (abgesehen von obenstehender Ausnahme) alles abgedeckt und man konnte wunderbar ohne zusätzliches Geld durchkommen. Es gab zwar eine kleine Bar mit Snacks und Getränken, aber die war dermaßen unauffällig platziert, dass nicht im Vorbeigehen Konsumwünsche geweckt wurden, sondern dass man sich wirklich aktiv entscheiden musste, dort hinzugehen (und anschließend mit dem Erworbenen irgendwo anders hin, wo es gemütlicher war).

Eine weitere Sache, die mir erst am zweiten oder dritten Festivaltag auffiel: es gab keine Kinder. Ich sprach mit verschiedenen Gästen über diese Beobachtung, und alle waren sich einig, dass das so stimmig sei. Interessanterweise konnte aber niemand erklären, warum. Uns fiel auch nach langem Überlegen kein Programmpunkt, keine Situation und kein Ort auf dem Gelände ein, der ein generelles Ausschließen von Kindern nötig gemacht hätte. Trotzdem hat die Beschränkung auf erwachsene Teilnehmer fraglos seinen Teil zum unverwechselbaren Charakter dieses Festivals beigetragen.

Noch etwas fand ich sehr angenehm: es gab kaum eine spürbare Trennung zwischen „Veranstaltern“ und „Gästen“ – die Übergänge zwischen diesen Polen waren sehr fließend. Das begann schon beim Anmelden, wo man keine Teilnahmegebühr bezahlt, sondern eine „Kurzzeit-Vereinsmitgliedschaft“ erwirbt, die automatisch am letzten Tag des Festivals endet. Und zeigte sich ebenso darin, dass die Abschiedszeremonie am Sonntagabend stattfand, während das Festivalende auf Montagmittag angesetzt war. Und dazwischen? Wurde gemeinsam abgebaut. So konnte jeder seinen Teil zum Gelingen beitragen und fühlte sich für ebendieses auch verantwortlich.

Erst im Nachhinein habe ich gemerkt, dass meine Enttäuschung über das ausgefallene „Nicht-Seminar“ unbegründet war: Romantik und Monte Verità – das ist dieselbe Epoche, und die Ausschreibung des Nicht-Seminars ähnelte an manchen Stellen verblüffend der des Blaue-Blume-Festivals.

Auch die Hoffnung, für ein paar Tage alle Rollen abzulegen, hat sich erfüllt. Das war in den ersten Tagen alles andere als angenehm: wer bin ich abseits aller Rollen und Zuschreibungen? Vielmehr noch: wo liegt mein Wert abseits dessen? Da tat sich erst mal ein schwarzes Loch auf und ich verbrachte viel Zeit alleine. Aufgelöst wurde das erst bei der Abschiedszeremonie am Sonntagabend. Es gab die Ansage, dass es hier keinen „Guru“ gebe, der uns den Reisesegen spenden könnte, sondern dass wir das stattdessen selbst, gegenseitig, auf Augenhöhe tun sollten. Wir sollten einander aber nicht nur Segen spenden, sondern auch mitteilen, was wir am anderen schätzen gelernt hätten. Davon erwartete ich nicht viel, denn wer hatte mich in den vergangenen Tagen schon gesehen? Um so überraschter war ich, als eine ganze Reihe Menschen zu mir kamen. Was sie sagten, ist hier im Einzelnen gar nicht wichtig. Wichtig ist die Erkenntnis, die in diesen Momenten in mich eingesickert ist: dass ich ungeachtet aller Talente liebenswert bin. Dass es völlig reicht, ich zu sein. Diese Einsicht, die hier recht banal klingt, war in dem Moment unglaublich berührend und wird mir hoffentlich noch eine Weile erhalten bleiben.

By the way: die Anmeldung fürs Blaue Blume Insel Festival 2020 wurde soeben geöffnet. Die Plätze sind begrenzt – schnell sein lohnt sich also.