Impfgrübeleien

Seit Anfang 2020 ist so viel über Corona geschrieben worden, dass ich lange dachte: ich werde mich da sicher nicht einreihen mit dem zigmillionsten Statement zu irgendeiner Detailfrage. Nun aber halt doch, möglichst unaufgeregt: der Weg zu meiner ganz persönlichen Impfentscheidung.

Anfang August

In den vergangenen Wochen hat mich die Frage umgetrieben, ob ich mich gegen Corona impfen lassen soll. Was es mir besonders schwer gemacht hat: egal wie ich mich entscheide, man wird mich in eine Schublade stecken. Tue ich’s, werden mich diejenigen belächeln, die Impfverweigerung als politisches Statement ansehen. Tue ich’s nicht, werde ich von anderen in die „Impfgegner“-Schublade gesteckt, wo ich mich ebenso wenig zugehörig fühle.

Bisher weiß ich es einfach nicht. Und gerade die Tatsache, wie leidenschaftlich manche ihre jeweilige Entscheidung vor sich hertragen, hat mich bisher sehr abgestoßen. Für ein paar Wochen dachte ich: wenn ich mich gerade zwischen Impfung und Coronainfektion entscheiden müsste, würde ich mich für Letzteres entscheiden, um es „hinter mich zu bringen“. Aber ich merke, dass auch das eine elitäre Sicht ist. Ich lebe in einem Land, wo ich es mir dank gutem Gesundheitssystem leisten kann, solche Erwägungen zu machen. Es ist ein „first world problem“, sich so frei für oder gegen eine Impfung entscheiden zu können oder gar eine mutwillige Infektion in Betracht zu ziehen.

Es gibt so manches, was gegen die Impfung spricht. Für mich persönlich mache ich mir wenig Sorgen um eine Corona-Erkrankung. Klar – es besteht ein gewisses Risiko, dass ich schwer erkranke und mit Langzeitfolgen zu kämpfen habe. Aber das kann ich ruhigen Gewissens unter „allgemeinem Lebensrisiko“ verbuchen. Die ganze Debatte um Anti-Corona-Maßnahmen scheint mir auf eine Null-Risiko-Gesellschaft hinzusteuern: es werden erhebliche Einschränkungen verhängt und akzeptiert, ohne diese in eine vernünftige Relation zur Gefahr zu setzen. Aber „Leben ist lebensgefährlich“, und ein Leben, in dem ich mich permanent in Watte packe, finde ich wenig lebenswert.

Mich beschäftigt auch, wie viel Geld mit dieser ganzen Sache verdient wurde – teils legal, teils illegal, aber an vielen Stellen mindestens unredlich. Nur als Beispiel: im Oktober 2020 – rund ein Jahr nach dem Börsengang – verzeichnete die Biontech-Aktie 2500% Wertzuwachs. Da sind ein paar wenige (die zur eigentlichen Impfstoffentwicklung gar nichts beigetragen haben!) sehr reich geworden, und es ist leicht auszumalen, dass auch die öffentliche Stimmungsmache fürs Impfen nicht gänzlich unbeeinflusst ist vom Interesse, diese Gewinne weiter zu steigern.

Und mich beschäftigt auch hier wieder die Frage nach globaler Gerechtigkeit. Jede*r zweite Deutsche ist inzwischen vollständig geimpft. Nun wird über eine Folgeimpfung für diese Menschen diskutiert, um ihren Schutz weiter zu erhöhen, während die globale Impfquote irgendwo bei 10% dümpelt. Das ist ein Verteilungsproblem: wenn sich der reiche Westen die dritte, vierte, fünfte Impfung gönnt und damit ein trügerisches Maß an Sicherheit ansteuert, das sich irgendwann nur noch an der Zahl der Neunen hinterm Komma bemisst, dann fehlen diese Impfstoffe in ärmeren Ländern, wo Menschen schon dankbar wären, eine erste Impfdosis zu bekommen.

Auf der anderen Seite geht es – wieder regionaler betrachtet – eben nicht so sehr darum, ob ich persönlich mich vor Corona schützen möchte beziehungsweise eine Notwendigkeit dafür sehe. Es geht vielmehr darum, ob ich für mich das geringe Risiko von Impfnebenwirkungen in Kauf nehme, um meinen Beitrag zu einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung zu leisten – trotz aller Gegenargumente, die man – wenn man will – immer finden wird. Wir leben in einer extrem komplexen Welt, und von dieser Art reifer Abwägung wünsche ich mir mehr anstelle allgegenwärtiger Schwarz-Weiss-Debatten. Letztlich kann ich mich auch fragen, ob es einen vernünftigen Grund gibt, mich *nicht* impfen zu lassen.

Mitte August

Während des August Riseup in Berlin unterhielt ich mich mit zwei jungen Menschen – neben vielem anderem auch übers Impfen. Beide hatten sich dafür entschieden und waren nicht einen Hauch missionarisch damit. Trotzdem hat es etwas in mir bewegt – vielleicht der Eindruck, dass ich in einer Blase lebe, in der das nicht-impfen-lassen eine deutlich validere Option ist als in der übrigen Bevölkerung. Da fällt es mir schwerer, meine Impf-Unentschlossenheit weiter vor mir zu rechtfertigen.

Ein paar Tage später bringt ein Artikel in taz das ganze Dilemma auf den Punkt. Da wird Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mit folgendem Satz zitiert:

„Jeder, der nicht geimpft ist, wird bei steigender Inzidenz mit dieser Variante ziemlich sicher infiziert werden“

Da krieg‘ ich Ausschlag. Das ist die Art von Angstmache und Pseudogewissheit, die sich in den vergangenen Monaten allzu oft als falsch herausgestellt hat. Bitte, das ist doch pure Spekulation!

Weiter unten heißt es dann im selben Artikel:

Warnungen gab es vor der Vernichtung von Impfstoffen in großem Stil. Laut Medienberichten könnten 3,2 Millionen Impfdosen betroffen sein, die in Arztpraxen lagern, aber wohl nicht vor Verfallsdatums verimpft werden können.

Das ist halt genauso schwachsinnig. Da mache ich mir meine schönen woken first-world-Gedanken, dass ich den Menschen in ärmeren Ländern den Impfstoff nicht wegnehmen will, und Fakt ist tatsächlich, dass Impfstoff (ob im großen Stil oder nicht) wegen Zögerern wie mir weggeworfen wird. Da hat ja auch keiner was von.

Ende August

Ich habe mich entschieden und meine erste Impfung erhalten. Manches aus den vorangegangenen Absätzen ist längst überholt: von 99,999-prozentiger-Sicherheit scheinen wir angesichts der neuen Vokabel „Impfdurchbrüche“ weit entfernt – dafür ploppen die Skandale um „Impfungen“ mit Kochsalzlösung hoch, ebenso wie die um die Abrechnung von Schnelltests, die nie stattgefunden haben.

Trotzdem: genug gegrübelt, genug aufgeschoben, genug hin- und her abgewogen. Ich habe mich gewissenhaft mit der Frage auseinandergesetzt, und mir gleichzeitig eingestanden, dass ich (fachlich) keine Ahnung habe. Aber die Erkenntnislage schien „good enough for now“.

Interessant war, dass auch dieser Schritt eine Auseinandersetzung mit meiner eigenen Endlichkeit war. Was, wenn die äußerst seltenen schweren Impfreaktionen gerade bei mir auftreten? Was will geregelt sein? Mein Testament noch mal schnell updaten? Oder wiegt die Angst vor der Bewertung durch mein Umfeld (egal in welcher Weise) doch schwerer als die vor Nebenwirkungen? Hätte ich die Impfung wenigstens in einen Zeitraum schieben können, wo Komplikationen weniger ungeschickt wären (also nie)? Nix da, es ist schon alles recht so.

Anfang September

Jetzt – eine Woche nach der Erstimpfung – geht es mir prima. Abgesehen von leichten Schmerzen im Impfarm in der ersten Nacht hatte ich keinerlei spürbare Reaktion. Trotzdem habe ich in den vergangenen Tagen weiter aufmerksam verfolgt, was andere so denken und biete das allen Unentschlossenen zum Weiterlesen an:

Der Volksverpetzer rät zum Impfen und meint sogar herleiten zu können, warum die Pharmaindustrie von Impfverweigerern mehr profitiert als von Impfwilligen.

Der Heise-Verlag hat Tipps parat, wie man mit Impfzweiflern am besten ins Gespräch kommt.

Und Fefe ist in seinem Blog gewohnt meinungsstark unterwegs – etwa hier und hier.

Wem auch das noch nicht reicht: Die Ärzte (die Band!) empfehlen die Impfung. Ebenso wie Jan Delay, Tocotronic und Die Toten Hosen. Und, äh… Trump. Ja, so verwirrend ist die Lage. Sonst noch Fragen? Bitte, gern gescheh’n.

3 Antworten auf „Impfgrübeleien“

  1. Danke für deine ausführliche Beschreibung, wie du zu deiner Entscheidung gekommen bist! Das ist heutzutage ja schon mutig, so offen damit zu sein, gerade im Internet.

    Für mich selber ist es völlig klar, dass ich mich nicht impfen lasse, das Missionieren habe ich in der Hinsicht längst aufgegeben. Jedenfalls gab es für mich nie das Hin- und her, wie du es beschreibst, denn für mich stank das Ganze von Anfang an zum Himmel. Insofern bin ich auf einer gewissen Ebene ganz entspannt damit.

    Noch ein kleines Detail zu BioNTech: Deren Riesengewinne sind allesamt durch Steuergelder finanziert…

  2. Lieber L.,
    ich finde deine Grübeleien sehr erfrischend, vor allem auch, weil du ganz von dir sprichst ohne den Anspruch auf Wahrheit für dich zu deklamieren. Solch eine Haltung ist ein gutes Beispiel für gelungene Kommunikation zwischen jenen, die sich für eine und jene, die sich gegen eine Impfung entscheiden. Ich gehöre zu letzteren und gebe zu, dass ich unter den täglichen Diffamierungskampagnen leide und bemühe mich, nicht in der gleichen Entwertung zurückzuschießen. Dazu haben mir deine Grübeleien Anregungen gegeben.
    Herzliche Grüße
    Karl

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