Eine Woche Görlitz

Mit Görlitz ist es so: wenn man einen Nachmittag durch die Innenstadt geschlendert ist, kann man den Eindruck bekommen, alles gesehen zu haben. Aber je länger man bleibt, desto länger wird die Liste der Ziele, die noch besucht werden wollen.

Nach einigen arbeitsreichen Wochen habe ich mir/haben wir uns eine Auszeit gegönnt. Görlitz reiht sich spielend ein in meine lose Reihe „latent unterschätzte ostdeutsche Städte“. Wie immer hat mich die Frage getrieben, was die Stadt an „alternativem“ Leben zu bieten hat. Ich musste nicht lange suchen und wurde nicht enttäuscht. Aber der Reihe nach.

Die Innenstadt

Görlitz hat eine extrem hübsche Innenstadt mit Unmengen historischer Gebäude. Um (mit Wikipedia) genauer zu sprechen: „Mit über 4000 großteils restaurierten Kultur- und Baudenkmalen wird Görlitz oft als das flächengrößte zusammenhängende Denkmalgebiet Deutschlands bezeichnet“.

Dass es mal Pläne gegeben haben soll, die Innenstadt zugunsten von Neubauten zu sprengen, ist heute kaum mehr vorstellbar – inzwischen gibt es zum Glück ausreichend Wertschätzung für dieses Kulturdenkmal.

Unterkunft

Auf die Pension Zum Grünen Tor war ich schon vor Monaten aufmerksam geworden. Das war ein echter Glücksgriff: die Ferienwohnung war mit 55€ pro Nacht enorm günstig, bot ausreichend Platz und ist mit ihren hohen Decken und der liebevoll ausgesuchten Ausstattung ziemlich heimelig. Einziger Wermutstropfen: bei der Wahl zwischen den beiden angebotenen Ferienwohnungen muss man sich zwischen Küche und Badewanne entscheiden. Fällt die Wahl auf Letzteres, hat man lediglich eine Kochplatte zur Verfügung und spült das Geschirr im Bad. Aber wenn man ohnehin den ganzen Tag unterwegs sein möchte, ist das zu verschmerzen.

Der Inhaber bezeichnet die Unterkunft als „nachhaltige Pension“ – das Frühstück für die Pensionszimmer ist überwiegend bio, die Handtücher sind aus einer Baumwoll-Sojafaser-Mischung und der Posten „ein Lächeln: gratis“ steht standardmäßig auf der Buchungsbestätigung – um nur ein paar wenige der vielen Dinge zu erwähnen, wo sie sich von üblichen Unterkünften abhebt. Eingelöst wurde das kostenlose Lächeln allerdings erst bei der Abreise – am Ankunftstag nahmen wir die Möglichkeit zum Self-Check-In wahr und waren so zeitlich flexibel.

Kultur

Bar im Kino Camillo

Da ist zunächst das Kino Camillo zu erwähnen, wo wir gerade noch so ins Ende einer Queerfilmfestival-Woche rutschten. Wir sahen den sehr beglückenden Film so damn easy going und hatten auch sonst Freude an der sehr familiären Atmosphäre dort. Bei der Gelegenheit soll auch das zweite Görlitzer Alternativkino, die Heine KinoBar, nicht unerwähnt bleiben: ebenfalls ein sehr nettes Cafe mit angeschlossenem Arthouse-Kino.

Während das Camillo-Kino viel Wert auf non-binäre Perspektiven legt, ist es amüsant, unweit davon Flyer des Digitale Oberlausitz e.V. zu finden, der sich der digitalen Zukunft und damit (mit ein wenig Nerd-Humor) explizit binären Perspektiven verschrieben hat:

There are only 10 types of people in the world: those who understand binary and those who don’t.

Ein weiterer Kultur-Hotspot ist das Kühlhaus Görlitz. Etwas außerhalb im südlichen Stadtteil Weinhübel gelegen, bietet es Flächen zum Campen und Coworken; außerdem Vorträge, Konzerte, Workshops und vieles mehr. Außerdem gibt das Kühlhaus den alternativen Stadtplan PlanB heraus, wofür man dem Team gar nicht genug danken kann. Ähnlich bereite ich mich ja auf solche Städtetrips vor: ich recherchiere interessante Kultureinrichtungen, Restaurants und Sehenswürdigkeiten und fasse die Fundstücke auf einem Online-Stadtplan zusammen, mit dessen Hilfe ich mich dann durch die Stadt bewege. Für Görlitz hätte ich mir einen Großteil dieser Vorarbeit sparen können, denn der auch online verfügbare PlanB umfasst ein Vielfaches an spannenden Locations. Im Kühlhaus, das für diesen Abend zum Glück gut beheizt war, genossen wir ein Konzert der Nürnberger Indie-Folk-Band Nick&June.

Bei der Gelegenheit sollte ich auch das (oder die?) Rabryka erwähnen, ebenfalls ein umfunktioniertes Fabrikgelände, allerdings mitten in der Innenstadt und mit etwas anderen Schwerpunkten. So gibt es dort ein umfangreiches Angebot für Kinder und Jugendliche – etwa Kürbisschnitzen und Lasercutten zu Halloween:

Ein Kleinod ist das Art Goreliz, eine verwunschen-verwinkelte Buchhandlung mit Antiquariat und Cafe, die sich über mehrere Räume erstreckt, und wo man sich problemlos beim Stöbern in Regalen und Bücherstapeln verlieren kann.

Essen & Trinken

Da ist unbedingt das Café Herzstück zu erwähnen – ein Café mit angeschlossener Nähstube. Neben Frühstück gibt es bis in den Abend hinein heiße Schokolade und ähnlich leckere Getränke, dazu verschiedene Sorten selbstgebackenen veganen Kuchen. Wer sein Heißgetränk mit Pflanzenmilch bestellt, zahlt nicht etwa drauf, sondern bekommt 20 Cent Nachlass – schönstes Öko-Nudging.

Nett ist sicher auch das „Bauchgefühl“, ohne dass ich Gelegenheit für einen Besuch hatte.

Kaufen

Die Mayerei hat ein tolles Angebot an überwiegend bio-fair-veganen Klamotten – extrem heimelig dank Kaminfeuer. Beinahe hätte ich mir ein paar hübsche Kleider für den nächsten Sommer gekauft… Noch mehr bio-faire Klamotten gibt’s bei BioVivo – allerdings ganz überwiegend für weiblich gelesene Menschen.

Lebensmittel bekommt man in zahlreichen Bioläden – uns hatte es besonders der direkt im Bahnhof angetan. Gut ausgestattet und sehr persönlich. Nur wenige Minuten entfernt – um nur einen weiteren zu erwähnen – findet sich Emmas Tante, ein winziger Unverpackt-Laden.

Dann gibt es da noch den Regionalladen daily fein, von wo ich Liegnitzer Bomben mitbrachte – eine regionale Spezialität aus Lebkuchenteig und einer Frucht-Marzipanfüllung.

Umgebung

Görlitz liegt an der Landesgrenze zu Polen und wird Richtung Osten begrenzt von der Neiße. Direkt ans andere Neißeufer schmiegt sich die polnische Stadt Zgorzelec – zusammen bilden die beiden seit 1998 die selbst ausgerufene „Europastadt“. Dass man über die verschiedenen Brücken von der einen Stadt in die andere und von einem Land ins andere schlendern kann – ohne jegliche Grenzformalitäten – fühlt sich ziemlich selbstverständlich an und ist gleichzeitig eine enorme Errungenschaft. Auch auf der anderen Seite erwarten einen nette Cafés – etwa das Czarna Caffka (Daszyńskiego 102) direkt am Neißeufer.

Auch die tschechische Grenze ist nicht weit, was einen Künstler zur Entwicklung von 3Kick (gesprochen Trikick) inspirierte: ein Fußbalfelld mit drei Toren, auf denen je eine Mannschaft aus Deutschland, Polen und Tschechien zeitgleich gegeneinander antreten. Soll noch mal eine*r sagen, Sport sei keine Völkerverständigung.

Quelle: radio.cz

Transport

Die Weltstadt Görlitz unterhält ein Straßenbahnnetz, wobei „Netz“ schamlos übertrieben ist. Es handelt sich genaugenommen um zwei Linien, die sich auch noch über weite Strecken überlappen. Wer (wie ich) den verwegenen Plan fasst, die Endhaltestellen abzufahren, ist nicht lange beschäftigt. Mit einem Tagesticket für vier Euro ist das ein recht günstiger Spaß – man wird nur sehr oft von einem barschen „Endstation!“ aus den Tagträumen gerissen. Dann kann man – zumindest im Norden – die 700 Meter von der einen zur anderen Endstation zu Fuß zurücklegen und mit der anderen Linie zurückfahren. Als Ausflugsziel eignet sich die Endhaltestelle „Landeskrone“, von wo man auf die namensgleiche gut 200 Meter hohe Anhöhe steigen und den Rundumblick genießen kann.

Von der anderen südlichen Endhaltestelle „Weinhübel“ ist es nicht weit zum Berzdorfer See, einem ehemaligen Tagebau, an dessen Ufer man auch vorzüglich spazieren gehen kann.

Blick auf den Berzdorfer See

Die nördlichen Endhaltestellen sind weniger spektakulär:

Nachtleben

Na, da bin ich ja wirklich der letzte, der da Expertise vorweisen könnte. Wir haben’s trotzdem probiert, hatten es allerdings schwer an einem Montagabend, wo viele Bars geschlossen haben, und dann auch noch das anvisierte N13 ganz außerplanmäßig zu war. Stattdessen sind wir im Kaffee am Flüsterbogen gelandet, einer Lokalität, die nicht richtig Café, nicht richtig Kneipe, nicht richtig Bar ist. Irgendwie passt nichts richtig zusammen, aber der Flammkuchen war lecker, die Getränke ebenso, und wir saßen inmitten von lauten, fröhlichen Einheimischen – zur richtigen Zeit am richtigen Ort, ein schöner Reiseabschluss.

Fazit

Görlitz ist eine sehr putzige Stadt mit wirklich hübscher Innenstadt und einem lebendigen Kulturleben – und das praktisch alles in Laufweite. Ein lohnendes Ausflugsziel – Prädikat empfehlenswert!