Die nächste Städtereise. Fetzt Erfurt auch?

Eigentlich wollte ich diesmal nur Urlaub machen. Ehrlich. Nix bloggen, und überhaupt: gar nix müssen. Vor der Abfahrt kamen dann aber doch die erwartbaren Fragen (Erfurt? Warum Erfurt?!?). Nicht ganz so entgeistert wie seinerzeit beim Chemnitz-Trip, aber schon ein bisserl. Und dann schließlich, kurz vor Abfahrt die Krönung: „Also bei Erfurt muss ich immer an Amoklauf denken“. Leute, so geht’s nicht. Das ist 18 Jahre her. Ohne die Stadt zu kennen, möchte ich behaupten: das wird ihr nicht gerecht.

Sonntagabend komme ich in Erfurt an und radle zu meiner Unterkunft – wieder mal vermittelt via AirBNB. Das sorgt für latent schlechtes Gewissen. Ich bin schuld, dass in Erfurt die Mieten steigen. Andererseits schätze ich die Schnörkellosigkeit sehr. Man sieht sich zu Beginn fünf Minuten, wirft bei der Abreise den Schlüssel in den Briefkasten und muss zwischendurch mit niemandem reden. Ist nicht an starre „Frühstück nur bis zehn Uhr“-Arrangements gebunden. Wenn es ein sozialverträglicheres Modell gäbe, das ähnliche Zurückgezogenheit ermöglicht – ich wäre sofort dabei.

Wenn ich das schlechte Gewissen dann mal kurz parke, grüble ich, wie das Ganze eigentlich funktioniert. Ich habe hier vier Tage lang eine Wohnung für mich, an deren Klingelschild einerseits „Firma xy“ steht, die aber ansonsten ziemlich bewohnt aussieht. Was macht der Eigentümer, während ich hier bin? Kommt er bei Partner oder Partnerin unter? Also nearly dauerhauft, weil – die Wohnung ist recht begehrt, wie ich sehe. Erschließt sich noch nicht, aber ich traue mich dann auch immer nicht zu fragen.

Erfurter Hinterhausidylle

Nach der Schlüsselübergabe richte ich mich ein und schaue mich ein wenig um. Mein Gastgeber hat ein phänomenal vielseitiges Bücherregal. Wörterbücher verschiedenster Sprachen, Reiseführer von Thüringen bis Honolulu, Fachbücher zu sämtlichen naturwissenschaftlichen Gebieten, Geschichte, Politik… Und zwischen Büchern zu Chemie und Werkstoffkunde: ein Band „Mein heimliches Auge – erotisches Jahrbuch“. Sehr sympathisch.

Wie üblich habe ich vorab recherchiert. Was gibt’s an kulturellen Angeboten? (Äußerst dünn in in Coronazeiten…) Gibt es ein (wie auch immer geartetes) „alternatives“ Erfurt? Und – ganz zentral – wo kann man gut Lebensmittel retten?

Auf der Suche nach empfehlenswerten Restaurants grub ich mich durch diverse Blogs, die sich in ihren Empfehlungen seltsam einig waren: Faustfood, Peckhams, Cognito… ja, ja. Am ersten Abend landete ich stattdessen bei „Chez Laurent“. Nix mit Systemgastronomie – stattdessen ein französisches Bistro, wo einem der Chef persönlich „Bon Appétit“ wünscht. Schön.

Tags darauf: Essen organisieren. In Erfurt gibt es einen Laden, der ausschließlich Backwaren vom Vortag verkauft. Und dort wiederum kann man via toogoodtogo Essen „retten“. Bekommt man dann Brot vom Vor-Vortag? Zum Glück nicht. Leckere Sachen, und äußerst viel davon. Mehr als ich während meines Aufenthalts hier werde essen können. Warum mache ich das? Um mich gelegentlich daran zu erinnern, wie wenig Lebensmittel in unserer Gesellschaft wert sind? Um ein finanzielles Gegengewicht zu Restaurantbesuchen zu setzen? Weil es so angenehm ist, nicht wissen zu müssen, was man kaufen möchte? Weil es den mir eingeschriebenen Drang nach „Sparen“ und „Retten“ gleichermaßen bedient? Jedenfalls finde ich mich abends bei einem weiteren toogoodtogo-Partner – einem Obst- und Gemüsehändler, den ich kurz darauf schwer bepackt wieder verlasse. Backwaren und Gemüse, die mich wohl für eine knappe Woche versorgen könnten – für insgesamt acht Euro. Wenn es danach geht, müsste ich die Wohnung bis zur Abreise nicht mehr verlassen. Zumindest am Folgetag lass‘ ich das dann auch tatsächlich bleiben.

Die Rückfahrt vom Vortags-Bäcker beschert mir eine Fahrt auf diesem blumenbeglückten Feldweg. Wie gehabt: anklicken zum Vergrößern.

Mittwoch: Frühstück im Café Füchsen. Laut Eigenwerbung „schnürkellos“, aber mit ausgefeilten Spezialitäten. Kardamom-Zimt-Kaffe und selbstgemachte Marmeladen (Kiwi-Waldmeister, Passionsfrucht-Curd und noch mehr krasses Zeug). Maskenpflicht? Eher lax, wie es mir auch an vielen anderen Stellen begegnet. Im Türrahmen zieht man sich kurz die Maske auf – sieht, dass sonst kein Gast eine auf hat, kommt sich doof vor und setzt sie wieder ab. Können die Betreiber aber nix für – es ist einfach echt noch ungewohnt. [Nachtrag: meine Kontaktdaten habe ich während meines ganzen Aufenthalts nirgends hinterlassen müssen.]

schnürkellose Eier im Café Füchsen.

Am Nachmittag will ich mir eigentlich die Stadt anschauen, aber es nieselt nachdrücklich. Die Bibliothek hat geschlossen, und selbst wenn sie geöffnet hätte, so wäre ich angehalten, mich dort „nicht länger als 20 Minuten“ aufzuhalten. Weil ich für den Rest des Tages nicht von Café zu Café ziehen möchte, lande ich schließlich in der Erinnerungsstätte Topf & Söhne. Die gleichnamige Firma lieferte während des NS-Regimes zahlreiche Verbrennungsöfen an Konzentrationslager. Die Erinnerungsstätte dokumentiert die Verwicklung der Firma mit den Nazis. Was mir gefällt: die Ausstellung gibt keine einfachen Antworten. So wird dargestellt, dass die Firma einerseits Regimekritikern Unterschlupf bot. Andererseits belegen Dokumente, dass Geschäftsführung und Ingenieuren bewusst war, dass ihre Produkte aktiv zur Tötung von Menschen genutzt wurden. Auch die Verstrickung einzelner Menschen wird nachgezeichnet. So wurden Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft oder politischen Haltung akut bedroht waren, einerseits durch Unabkömmlichkeits-Erklärungen vor dem sicheren Tod bewahrt. Der Preis war allerdings, dass sie fortan innerhalb der Firma ihren Beitrag zur effizienten Tötung anderer Menschen leisteten.

Erinnerungsstätte Topf & Söhne

Es fällt mir schwer, auch nur ansatzweise zu begreifen, was damals passiert ist – und ich möchte mich hüten, mir selbstgefällig zu versichern, dass ich damals bestimmt anders gehandelt hätte. Dass wir noch heute in Widersprüchen leben, wird mir am selben Tag bei der Zeitungslektüre bewusst. Dort wird von einer Initiative berichtet, die den Grundgesetz-Artikel 3 überarbeiten möchte, in dem es heißt, Menschen dürften „nicht aufgrund ihrer Rasse benachteiligt werden“. Die Kritik kann ich nachvollziehen, denn selbst wenn der Artikel Benachteiligung aufgrund rassistischer Überzeugungen verhindern soll, kann man ihn doch leicht so lesen, als gäbe es tatsächlich „Menschenrassen“.

Die Ausstellung in der Erinnerungsstätte ist deutlich fesselnder als ich erwartet hatte – ich verbringe schließlich einen Großteil des verregneten Nachmittags dort. Immer wieder bin ich berührt von Schilderungen oder Exponaten – und erlebe dann beim Blick aus dem Fenster einen kurzen Realitätsschock. Der Blick auf moderne Wohnhäuser, den angrenzenden Gartenfachmarkt und ein Polstermöbel-Geschäft ist ein heftiger Kontrast und erinnert mich, in was für einer privilegierten, friedlichen Zeit ich lebe.

Blick aus der Erinnerungsstätte in die Gegenwart

Wie schlage ich hier jetzt einen würdigen Bogen zurück zu meinen Urlaubs-Banalitäten? Ich versuche es gar nicht erst. Fürs Abendessen lasse ich das andernorts vielfach gelobte Bistro Ibras links liegen, weil davor Unmengen maskierter Menschen auf ihre To-Go-Tüten warten. Stattdessen lande ich bei green republic, was sich als echter Glückstreffer entpuppt. Ich hatte irgendwie einen Bioladen mit ein bisschen Bistro am Rande erwartet – stattdessen ist es ein vorzügliches veganes Bistro mit ein klein wenig Lebensmittelverkauf am Rande. Man bekommt dort alles, wonach man sich vielleicht in manchen dunklen Stunden sehnt, aber sich dann Tierwohl oder Klima zuliebe dagegen entscheidet: Döner, Burger, Currywurst, Chicken Nuggets… alles halt in vegan.

Gebäck mit Mundschutz. Gewiefte Bäcker nehmen halt auch jeden Trend mit.

Tags darauf besuche ich die Krämerbrücke und kaufe auf A.’s Geheiß den Goldhelm-Shop leer (zumindest fast). Die Krämerbrücke ist eine Miniatur-Fußgängerzone, die auf eine Brücke gebaut ist. Alles ist so klein und putzig und eng, es fühlt sich ein bisschen an wie Disneyland (okay, vermutlich ist Disneyland viel schlimmer, aber so stelle ich es mir vor). Die Erfurter scheinen sich gehörig was einzubilden auf ihr Brückchen – in einem Schaufenster lese ich von „der einzigen bewohnten Brücke nördlich der Alpen“. Ha, von wegen! Da haben sie ja allermindestens mal Esslingens „Innere Brücke“ vergessen.

Haltlose Behauptungen in Erfurter Schaufenster.

Nachmittags lungere ich noch ein bisschen im Clärchen rum. Ich esse irgend so ’nen abgefahrenen NussMohnAprikoseKiwi-Kuchen, trinke Kakao, der angeblich glücklich macht, und plausche ein wenig mit dem netten jungen Mann am Nebentisch, der sich irgendwann als der Eigentümer herausstellt. Ach, Erfurt… Grüble dann noch ein bisschen herum, wie ich jetzt eigentlich die Frage beantworte, die ich in der Überschrift aufgeworfen habe. Und find’s dann auch wieder egal, weil ich beim nächsten Mal ja eh wieder eine neue Stadt erkunden und neue Vorurteile ausbügeln will. Jedenfalls bin ich nach kurzem Faktencheck überrascht: Chemnitz und Erfurt haben ähnlich viele Einwohner*innen; Chemnitz ist geringfügig kleiner und damit dichter besiedelt. Hätte ich nicht gedacht. Erfurt fühlt sich für mich deutlich weitläufiger, größer, lebhafter an. Und ich hätte hier problemlos noch ein paar Tage verbringen können.

Im Clärchen: Kakao, der hält, was er verspricht.

Und dann habe ich meinen Erfurt-Moment: der Kakao tut, was mir versprochen wurde, und ich ertappe mich dabei, sehr, sehr beglückt in die Welt zu schauen. Erfurt fetzt – auf seine Weise.

4 Antworten auf „Die nächste Städtereise. Fetzt Erfurt auch?“

  1. Ich finde, du solltest Kommunen mit schlechtem Ruf oder mit ner Kampagne: „…. soll besser werden“ beraten. Du bist der Imagemaker for the 21st century.

  2. Super geschrieben! Wenn ich dich nicht schon kennen würde,
    würde ich dich gerne mal kennenlernen ;))

  3. Lieber L., ich bin waschechte Erfurterin. Mit 19 bin ich weggegangen, weil Erfurt nicht mehr genug gefetzt hat. Aber jetzt bekomme ich große Lust, mal einen Heimatbesuch zu machen und alle leckeren und nachdenklichen Orte aufzusuchen, die Du gefunden hast…

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